Prallvoll gefüllt

Ich war stolz wie Oskar. Wirklich. Gefühlt zwei Meter groß. Der Chef der kleinen Lokalredaktion, bei der ich als Schüler nebenher arbeitete, hatte das Potenzial erkannt, das in mir steckte.

Michael, ich werde nächste Woche in Urlaub sein. Traust du dir zu, allein die Beilage zu gestalten?

Ich starrte meinen Chef an. Ich war gerade mal 18 Jahre alt – und ich sollte die vierseitige Beilage verantworten, die einmal wöchentlich von uns gemacht wurde?

Mein Chef nickte.

Ich habe vollstes Vertrauen in dich.

Ja, und keine Alternative, ergänzte ich im Stillen. Kleine Lokalredaktionen hatten nun einmal den Charme, dass nicht allzu viel Personal dort herumsprang. Konkret: Mein Chef war in diesen Tagen sein eigener Chef. Keine störenden Kollegen. Nur noch eine nette Sekretärin, die beim Schreibkram half.

Es war Sommer – ich hatte Sommerferien und riesig Lust auf die Herausforderung. Also wurde ich instruiert. Mein Chef hatte zahlreiche Texte und Fotos vorbereitet und in einem Körbchen deponiert – ich sollte nicht an inhaltlichem Mangel leiden.

Nichts leichter als das.

Mein Chef fuhr in den Urlaub, und ich setzte mich froh ans Werk. Vier Seiten füllen? Ein Kinderspiel.

Ich nahm Artikel um Artikel, layoutete, textete Überschriften. Nahm Fotos, beschnitt sie passend, setzte sie zum Artikel dazu.

Im Nu war die erste Seite gefüllt. Auch die zweite und dritte Seite war rasend schnell voll – das Körbchen mit den Texten war es allerdings auch noch. Es wurde und wurde nicht leerer.

Also musste ich kleinteiliger arbeiten – sonst würde ich das ganze Zeug niemals unterkriegen.

Ich riss die Seiten wieder neu auf – wie wir Journalisten das nennen. Ich kürzte, was das Zeug hielt. Platz für große Fotos? Nix da – Daumennagelgröße musste es tun.

Sechs Themen auf eine Seite – da ging noch mehr. Ich quetschte. Schwitzte. Immer mit dem Blick auf das Körbchen, das wie im Schlaraffenland einfach nicht leer werden wollte. Im Geiste hörte ich das Donnerwetter meines Chefs – denn er erwartete ja zurecht von mir, dass alle Wichtigkeiten unserer kleinen Stadt in der Zeitung standen!

Es war vollbracht. Vier Seiten randvoll mit Artikeln und Themen – es passte wirklich keine Stecknadel mehr aufs Papier. Kummervoll blickte ich ins Körbchen: Tatsächlich lagen noch fünf Artikel samt Fotos drin – hatte ich versagt?

Ich schickte das gesamte Material und die Layoutvorgaben zu den Druckern nach Koblenz und holte am nächsten Dienstag voller Stolz die Zeitung aus dem Briefkasten. Gut, auf den Fotos konnten nur die Leser, die mit einem Adlerauge gesegnet waren, etwas erkennen – aber egal. Meine vier Seiten bargen Lesestoff en masse.

Als mein Chef zurückkam, rief er mich zu sich. Ich war bereit, seine Lobpreisung zu empfangen.

Du hast den Inhalt des ganzen Körbchens in eine einzige Beilage gequetscht?

Ja. Bis auf fünf Texte. Tut mir echt leid, die haben beim besten Willen nicht mehr reingepasst.

So, so. Ich verrate dir etwas: In diesem Körbchen lagen alle Artikel, die ich für die komplette Sommerzeit vorgeschrieben hatte.

Oh.

Mein Chef wurde laut.

ICH HAB NUR NOCH FÜNF LAUSIGE TEXTE! WIE SOLL ICH DAMIT DIE NÄCHSTEN SECHS BEILAGEN VOLLMACHEN??? ES IST SOMMERLOCH UND NICHTS LOS!

Ui ui ui – dickes, fettes Missverständnis.

Mein Chef legte mir den Arm liebevoll auf die Schultern.

Macht nix. Du lernst jetzt einfach etwas Neues: Themen suchen.

Es war eine Schule fürs Berufsleben: In den kommenden Tagen lernte ich, eine Nase dafür zu entwickeln, wie ein Journalist auch in Dürrezeiten seine Oasen – sprich: seine Geschichten – findet. Mein Chef und ich schrieben uns die Finger wund, und wir versorgten unsere Leser in den nächsten Wochen mit großartigen lokalen Artikeln.

Nur ans Layout durfte ich nicht mehr.

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